Unter Regionalakzent verstehen wir die standardnächste regionalsprachliche Sprechlage (Kehrein 2019, 122). Der Regionalakzent ist Teil der (Voll-)Varietät Regiolekt, die sich durch ihre Großräumigkeit, gesamtsprachliche Verständlichkeit und ein relativ geringes Alter von der zweiten Vollvarietät der modernen deutschen Regionalsprachen, dem Dialekt, unterscheidet. Während die Vorläufervarietäten der Regiolekte, die an der Schrift orientierten landschaftlichen Formen des Hochdeutschsprechens im 18. Jahrhundert entstanden sind, sind die Dialekte so alt wie das Deutsche und durch Kleinräumigkeit und einen eng begrenzten Verstehensradius gekennzeichnet.
Als Vollvarietät zeichnet sich der Regiolekt durch eigenständige lautliche und grammatische Strukturen aus. Die Überwindung von Strukturgegensätzen zwischen Vollvarietäten erfordert individuell eine eigenständige Lernphase (z. B. Einübung eines zusätzlichen Phonems oder eines fehlenden Kasus). Das führt beim Individuum oft zu Vermeidungsstrategien oder Hyperkorrekturen (Tich statt Tisch) und ist sozial bedeutsam (Schibboleth als sprachliches Indiz für Gruppenzugehörigkeiten) oder wird gar sanktioniert (Sprachspott). Innerhalb der Grenzen einer Vollvarietät können Sprecherinnen und Sprecher ihre Realisationen relativ leicht an die Erwartungen ihres Gegenübers anpassen. Man spricht hier von einem Shiften zwischen Sprechlagen, einem Verdichtungsbereich innerhalb eines Kontinuums. Als Sprechlage mit der weitgehendsten Anpassung an die Standardsprache ist der Regionalakzent durch Sprachmerkmale gekennzeichnet, die sich individuell nur schwer oder gar nicht vermeiden lassen (remanente Merkmale). Eine Folge hiervon ist, dass diese Merkmale oft auffällig (salient) und sozial bedeutsam (pertinent) sind.
In der relativ jungen Erforschung des Regionalakzents hat sich noch keine einheitliche Terminologie etabliert. Neben dem älteren Umgangssprache werden Begriffe wie regionaler Standard, Regionalstandard, Gebrauchsstandard und Alltagssprache verwendet.
Im Unterschied zur Standardsprache ist der Regionalakzent durch eigenständige Sprachformen gekennzeichnet, die z. B. Fremden in der Region häufig auffallen. Ein solches Merkmal ist das regionalsprachliche [∫] in Lischt statt Licht im Rheinfränkischen. Die den Regionalakzenten eigenen Merkmale sind dabei nicht auf die Lautebene beschränkt. Im Gegenteil, sie können sämtliche Ebenen des Sprachsystems betreffen. Bei ostfränkischem Füß für Füße (Pluralmarkierung nur über Umlaut) oder alemannischem zoge statt gezogen (Partizip Perfekt ohne ge-) handelt es sich z. B. um ein morphologisches Merkmal des Regionalakzentes, bei da weiß ich nichts von statt davon weiß ich nichts (Spaltungskonstruktion bei Pronominaladverbien) um ein syntaktisches Merkmal. Auch lexikalische Merkmale wie regionalsprachliches laufen in der Bedeutung von gehen (Heterosemie) oder pragmalinguistische Merkmale wie der z. T. als unhöflich empfundene Bezug auf Anwesende mit Hilfe eines Pronomens (Die schaut TV. statt Tanja schaut TV.) können Elemente des Regionalakzentes sein.
In der vorliegenden REDE-Ergebnispräsentation zum Regionalakzent legen wir diejenigen Erhebungssituationen zugrunde, die einen systematischen Vergleich zwischen den verschiedenen Regionalakzenten des Deutschen ermöglichen:
Die Situationen unterscheiden sich dadurch, dass die Schrift- bzw. Buchstabenorientierung beim Vorlesen (Situation 2) einem tatsächlichen Sprechen des intendierten Standards in Situation 1 gegenübersteht, bei dem eine Äußerung auf der Basis einer Vorlage schrittweise aufbauend (inkrementell) produziert wird. Kehrein (2019: 147-150) hat darauf hingewiesen, dass die standarddivergenten Merkmale der Regionalsprache, und damit auch der Sprechlage Regionalakzent, sehr unterschiedlichen systemischen Status haben können: Er unterscheidet Merkmale, die einen systemischen Kontrast zur Standardsprache konstituieren (Typ 1) von Merkmalen, die allophonisch verarbeitet werden und somit keinen Systemkontrast konstituieren (Typ 2). Merkmale des Typs 1 bewirken Verstehbarkeitsprobleme und markieren Varietätengrenzen. Merkmale des Typs 2 bewirken keine Verstehbarkeitsprobleme und konstituieren Sprechlagen, nicht Varietäten.
Indem wir uns auf die Erhebungssituationen 1 und 2 konzentrieren, rücken wir die besonders dominante Laut- und Formenebene (Phonetik/Phonologie und Morphologie) in den Vordergrund. Zu den syntaktischen Merkmalen des Regionalakzents führen wir eine separate Online-Erhebung durch, an der sich alle Interessierten beteiligen können. Erste Ergebnisse zu dieser Befragung finden sich hier.
Die Erhebung der Regionalakzente ist Teil einer breit angelegten Sprachdokumentation im Rahmen des REDE-Projekts, in dem für drei Informantengruppen das individuelle Variationsspektrum erhoben und linguistisch analysiert wurde:
Die Erhebung des Variationsspektrums folgt der Annahme eines Zusammenhangs zwischen sprachlicher und situativer Variation: Personen verwenden bestimmte Sprechlagen in Abhängigkeit von der Gesprächssituation. Im REDE-Projekt wurden die Erhebungssituationen systematisch variiert, um die situationsspezifisch unterschiedlichen Sprechlagen zu elizitieren. Es handelt sich dabei um die folgenden fünf bzw. sechs Erhebungssituationen:
Der Regionalakzent wird als standardnächste regionalsprachliche Sprechlage v. a. in den standardorientierten Erhebungssituationen realisiert. Die Auswertung dieser beiden Erhebungssituationen für die Informantengruppen G1 und G2 ist die Grundlage der vorliegenden Analysen zum Regionalakzent. Der Mehrwert des REDE-Ansatzes besteht darin, dass die Erhebungen des Regionalakzentes somit nicht isoliert stehen, sondern individuell lokalisierbar sind, indem sie zu den anderen erhobenen Sprechlagen exakt in Beziehung gesetzt werden können.
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| 2023
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